Die Richtlinie 98/58/EG des Rates vom 20. Juli 1998 über den Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere ist eine zentrale EU-Rechtsvorschrift, die Mindestanforderungen für den Schutz von Nutztieren in der Europäischen Union festlegt. Sie gilt als Grundsatzregelung und wurde in Deutschland unter anderem durch das Tierschutzgesetz (TierSchG) und die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung (TierSchNutztV) umgesetzt.
1. Ziele der Richtlinie 98/58/EG
- Sicherstellung des Tierschutzes:
- Förderung artgerechter Haltungsbedingungen für landwirtschaftliche Nutztiere.
- Harmonisierung der Standards:
- Einheitliche Mindestanforderungen für die Tierhaltung in allen EU-Mitgliedstaaten.
- Förderung des Tierwohls:
- Vermeidung von Schmerzen, Leiden, Schäden und unnötigem Stress bei Nutztieren.
2. Anwendungsbereich
Die Richtlinie gilt für alle landwirtschaftlichen Nutztiere:
- Rinder
- Schweine
- Geflügel (Legehennen, Masthühner, Puten)
- Schafe
- Ziegen
- Kaninchen
- Andere Tiere, die für landwirtschaftliche Zwecke gehalten werden.
Ausgenommen sind Tiere, die in der Wildnis leben, sowie Tiere, die für wissenschaftliche Experimente verwendet werden (diese fallen unter andere EU-Vorschriften, z. B. Richtlinie 2010/63/EU).
3. Aufbau der Richtlinie
Die Richtlinie besteht aus einem Haupttext mit allgemeinen Anforderungen sowie einem Anhang, der detaillierte Mindeststandards für die Haltung von Nutztieren enthält.
3.1. Allgemeine Anforderungen
- Artikel 3: Tierhalter müssen sicherstellen, dass die Bedürfnisse der Tiere gemäß ihrer Art und ihres Entwicklungsstandes berücksichtigt werden.
- Artikel 4: Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass Tierhalter die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zur artgerechten Tierhaltung haben.
- Artikel 5: Verpflichtung zur Kontrolle der Tiere mindestens einmal täglich.
- Artikel 6: Verpflichtung zur Beseitigung von Schmerzen, Leiden oder Schäden bei erkrankten oder verletzten Tieren.
3.2. Besondere Anforderungen aus dem Anhang
Der Anhang der Richtlinie enthält konkrete Mindestanforderungen, die für alle Nutztiere gelten:
- Unterbringung und Stallklima:
- Tiere müssen ausreichend Platz haben, um natürliche Bewegungen auszuführen (z. B. Stehen, Hinlegen, Strecken).
- Ställe müssen so gebaut sein, dass Verletzungen vermieden werden.
- Anforderungen an Licht, Luftzirkulation und Temperatur.
- Fütterung und Tränke:
- Tiere müssen regelmäßig Zugang zu frischem Wasser und geeignetem Futter haben.
- Fütterungs- und Tränkeeinrichtungen müssen so gestaltet sein, dass alle Tiere ungehindert Zugang haben.
- Hygiene:
- Der Stall muss sauber gehalten werden, um Krankheiten und Infektionen zu vermeiden.
- Schutz vor Umweltbedingungen:
- Tiere müssen vor extremen Witterungsbedingungen geschützt werden (z. B. Regen, Hitze, Kälte).
- Bewegungsfreiheit:
- Eingriffe, die die Bewegungsfreiheit der Tiere dauerhaft einschränken (z. B. Anbindehaltung), sind auf das notwendige Maß zu beschränken.
- Eingriffe:
- Schmerzverursachende Eingriffe (z. B. Schwanzkupieren, Enthornung) dürfen nur unter Betäubung und bei nachgewiesener Notwendigkeit durchgeführt werden.
4. Umsetzung in den Mitgliedstaaten
Die Richtlinie 98/58/EG legt nur Mindestanforderungen fest. Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, strengere Vorschriften zu erlassen. Beispiele:
- Deutschland:
- Umsetzung durch das Tierschutzgesetz und die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung.
- Zusätzliche Regelungen für die Haltung von Legehennen, Schweinen und Masthühnern.
- Dänemark:
- Strengere Anforderungen an Platzbedarf und Gruppenhaltung von Sauen.
- Schweden:
- Verbot der Anbindehaltung bei Rindern und Schweinen.
5. Beispiele für spezifische Tierarten
5.1. Rinder
- Mindestfläche in Ställen.
- Anforderungen an Fütterungs- und Tränkesysteme.
- Verbot der dauerhaften Anbindehaltung ohne Zugang zu Auslauf (in Deutschland geregelt durch die TierSchNutztV).
5.2. Schweine
- Verbot der dauerhaften Haltung in Kastenständen.
- Verpflichtung zur Bereitstellung von Beschäftigungsmaterial (z. B. Stroh, Holz).
- Einschränkung von Eingriffen wie Schwanzkupieren oder Kastration.
5.3. Geflügel
- Mindestfläche pro Tier in Käfigsystemen.
- Beleuchtungsvorgaben (z. B. Tageslicht oder künstliches Licht mit Pausen).
- Anforderungen an Sitzstangen und Nistplätze.
6. Kontrolle und Durchsetzung
Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Einhaltung der Richtlinie durch regelmäßige Kontrollen zu gewährleisten:
- Inspektionen durch Behörden:
- Regelmäßige und risikobasierte Kontrollen in landwirtschaftlichen Betrieben.
- Berichtspflichten:
- Jährliche Berichte über die Umsetzung der Richtlinie müssen an die Europäische Kommission übermittelt werden.
Beispiel: In Deutschland sind die Veterinärämter für die Kontrolle der Einhaltung der TierSchNutztV zuständig. Bei Verstößen drohen Geldbußen oder Tierhaltungsverbote.
7. Sanktionen bei Verstößen
- Art. 6 der Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, wirksame Sanktionen bei Verstößen zu verhängen.
- Sanktionen können sein:
- Geldstrafen.
- Anordnungen zur Verbesserung der Haltungsbedingungen.
- Schließung von Betrieben bei schwerwiegenden oder wiederholten Verstößen.
8. Gerichtsentscheidungen
- VG Gießen, Urteil vom 15.09.2020, Az. 6 K 432/19:
- Ein Schweinehalter wurde sanktioniert, weil er die Tiere nicht mit ausreichend Beschäftigungsmaterial versorgte, was gegen die TierSchNutztV und die Richtlinie 98/58/EG verstieß.
- EuGH, Urteil vom 23.04.2015, Az. C-424/13:
- Der Europäische Gerichtshof entschied, dass Mitgliedstaaten verpflichtet sind, nationale Regelungen zur Käfighaltung von Hühnern mit der Richtlinie 98/58/EG in Einklang zu bringen.
9. Herausforderungen und Kritik
- Mindeststandards:
- Die Richtlinie legt nur Mindestanforderungen fest, die in vielen Mitgliedstaaten als unzureichend für den Tierschutz kritisiert werden.
- Umsetzung:
- Unterschiede in der Umsetzung und Durchsetzung führen zu Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU.
- Kontrollprobleme:
- Engpässe bei der Durchführung von Inspektionen, insbesondere in großen landwirtschaftlichen Betrieben.
10. Bedeutung der Richtlinie 98/58/EG
- Rechtsrahmen für den Tierschutz:
- Die Richtlinie bildet die Grundlage für nationale Tierschutzgesetze in der EU.
- Verbesserung des Tierwohls:
- Einheitliche Mindeststandards tragen dazu bei, das Wohlergehen von Nutztieren in der EU zu verbessern.
- Herausforderung und Ansporn:
- Mitgliedstaaten können durch strengere Regelungen als Vorreiter im Tierschutz agieren.
11. Tierschutzrichtlinie
Die Richtlinie 98/58/EG stellt einen wichtigen Meilenstein im europäischen Tierschutz dar. Sie definiert verbindliche Mindeststandards für die Haltung von Nutztieren und hat die Tierhaltung in der EU nachhaltig verbessert. Dennoch bleiben Herausforderungen, insbesondere bei der Umsetzung und Kontrolle der Vorgaben sowie bei der Angleichung der Standards in allen Mitgliedstaaten. Eine Weiterentwicklung der Richtlinie könnte dazu beitragen, den Tierschutz auf EU-Ebene weiter zu stärken.